26.01.2021 | © pt
Man muss auch mal sprechen über die Dinge. Häufig versteht man sich dann besser. In diesem Fall zumindest war es am Ende so.
Zur Begriffsklärung vorab:
Uferkapitäne sind, behaupte ich, eine besondere Spezies Mensch.
Erstens:
Sie, die Uferkapitäne, sind nach meiner Einschätzung ausnahmslos männlichen Geschlechts.
Zweitens:
Der Uferkapitän wohnt in uns allen, uns Männern meine ich. Einige von uns können ihn zäumen, in Schach halten, nicht zu offensichtlich vor sich hertragen – anderen gelingt das nicht.
Drittens:
Der Uferkapitän ist in jedweder Situation virtuos in der Lage, jedwedes Schiff, und sei es noch so groß oder fremd, angemessen und den Umständen nach sicher und völlig schadenfrei, natürlich auch unter schwierigsten Bedingungen, zu führen. Dieser ehrenvollen selbstgestellten Aufgabe kommt er gern lautstark und ausschließlich vom Ufer oder Steg aus nach.
Im Herbst zuckelten wir durch Hollands Kanäle, hatten vorher ein paar Wochen auf dem Ijsselmeer gemacht. Viele Häfen besucht, solche, die wir von früher kennen und auch ein paar neue. Schöne, gemütliche Wochen mit allerlei Begegnungen hatten wir verlebt. Wir waren rundum zufrieden mit unserem an die Ostsee angehängten Hollandurlaub.
Nun ging es langsam zurück in die Heimat, zum Glück hatte Frau Cornelia eine Kanalfahrt verordnet. Für außen herum wäre es zu ruppig gewesen, auch wenn wir den Wind auf dem Hintern gehabt hätten. Das Wetter war wirklich nicht so dolle – und schon gar nicht beständig.
In Kornwerderzand waren wir rausgegangen, nahmen ein paar Meilen Waddenzee mit, schleusten in Harlingen wieder ein, liefen durch bis Leeuwarden, erholten uns dort zwei kurzweilige Tage lang von der wenig anstrengenden Reise und liefen dann weiter durch die Dokkumer Ey mit Ziel Dokkum. Auch dort wollten wir uns noch zwei Tage Urlaubsverlängerung stehlen, sie sind so einladend schön, die niederländischen Orte mit ihrer prächtigen historischen Architektur.
Genau bis Birdaard kamen wir an jenem windigen Morgen, auf etwa halber Strecke zwischen Leeuwarden und Dokkum liegt der kleine Ort. Hier stoppte uns die erste von zwei Brücken.
Mittagspause! Zwei rote Lichter.
Ich hätte es wissen können, wir kommen beinahe immer zur Mittagszeit, egal ob von West oder Ost. Ein wenig mag das mit Frau Cornelias und meiner Biokurve in Zusammenhang stehen. Selten schaffen wir einen Aufbruch vor zehn Uhr am Morgen. Und dann ist man eben gegen Mittag in Birdaard, normal soweit.
Man muss wissen, auf wenig anderes achtet der holländische Brückenwärter, egal ob weiblich oder männlich, so penibel genau, wie auf das korrekte Einhalten der vorgeschriebenen Mittagsruhe. Ich will da nicht meckern. Das ist gut und richtig so. Es gibt dem Tag Struktur und auch etwas Verlässliches, Berechenbares. Wir machen das hier doch nicht anders in unserem Land. Wenn Mittag iss, iss Mittag, da fällt dem Maurer schon mal die Kelle aus der Hand. Oder dem Sachbearbeiter, er wird heute anders heißen, der Kugelschreiber, die Computermaus oder sogar der „Free Ink Roller“.
Mein Blick wanderte zur Uhr. Tatsächlich: Punkt zwölf. Unser Abstand zur Brücke – runde fünfzehn Meter, vielleicht zwanzig. Geglaubt hatte ich, es sei noch früher, wir kämen noch durch vor Mittag, hatte ich gehofft.
War aber nicht. Wir mussten warten, eine Stunde lang nach meiner Erfahrung. Genau eine Stunde lang ist Pause.
Ein Blick nach links – zum Ufer, alles voll. Hier lag Boot an Boot. Hatte ich nicht bewusst drauf geachtet als wir kamen. Wir wollten ja durch das Dorf und nicht in Birdaard liegen, wir wollten nach Dokkum.
Soweit so schlecht. Vor der Brücke mit laufender Maschine warten wollte ich nicht, aus Rücksicht auf die an der Kade liegenden Kollegen und nicht bei dem Wind, der uns kräftig auf den Hintern bließ und ebensowenig bei dem Strom, der inzwischen in dem an sich stehenden Kanalgewässer lief. Wind und Strom, wen wundert es, gingen in die gleiche Richtung, nämlich auf die Brücke zu. Aus den ursprünglichen zwanzig Metern Distanz zu Ihr waren inzwischen knappe zehn geworden.
In wenigen Sekunden!
Also zurück. Hier in dem engen Kanal wollte und konnte ich bei keinem der anderen Boote längsseits gehen, es wäre zu eng geworden, wenn nach der Pause zuerst die Gegenrichtung durchgelassen worden wäre. Das Schiff zu drehen war unmöglich, zu schmal der verbleibende Kanal und deutlich zu heftig der Wind.
Dann rückwärts, und zwar genau bis dahin, wo sich eine Liegemöglichkeit bot. Nun ist das an sich kein Problem. Mit dem Schiff, auf dem wir sitzen, aber nicht so einfach. Oder besser gesagt: es geht schon, macht allerdings keinen wirklich eleganten Eindruck, wenn ich die Kohinoor auf engem Raum rückwärts manövriere.
Ein kurzes Stück zurück, das Heck bricht aus, der Bug dreht weg. Also hart Ruder legen, einen kurzen Stoß voraus, das Ding liegt wieder gerade. Steht aber auch, die Fahrt ist raus. Ganz sicher bei Strom und heftigem Rückenwind. Dann das ganze erneut. Maschine zurück, Fahrt aufnehmen, Ruderwirkung ist keine, warten bis das Heck sich wieder aus der Richtung dreht, Ruder legen und, und, und...
So ging das eine ordentliche Weile, zumal Wind und Strom das ihre dazu taten, die von mir rückwärts gelaufene Strecke regelmäßig perfide deutlich zu verkürzen. Runde fünfzig Meter hatten wir geschafft, in weiteren knappen fünfzig Metern konnte ich eine Lücke erspähen zwischen zwei Schiffen. Die müsste passen, gerade reichen für uns – also, die Quälerei hätte bald ein Ende und wir könnten gemütlich Kaffee trinkend auf die nächste Brückenöffnung warten. Super also.
Ein wenig leid tat es mir um mein Publikum, wir hatten durch die von uns dargebotenen Wasserspiele doch einige interessierte Blicke auf uns gezogen. Und bald wäre das Schauspiel vorbei, es würde wieder Langeweile einkehren bei den unser Treiben beobachtenden Bootsbesatzungen. Rücksicht nehmen wollte ich darauf nicht. Ich mag kein Publikum, bin eher scheu.
Okay, wir legten mit den weiter oben beschriebenen Mühen die restliche Strecke zurück, die von mir erspähte Lücke war tatsächlich ausreichend groß, sie wird so sechzehn Meter gehabt haben und wir hatten riesiges Glück. Am Ufer wartete eine hilfsbereite Dame, die gern bereit war, unsere Leinen anzunehmen. So musste Frau Cornelia nicht runter von unserem hochbordigen Schiff.
Das nun folgende Anlegemanöver verbockte ich vollkommen, die von mir als Spring geplante Vorleine lag schon auf dem landseitigen Poller und war zu Frau Cornelia zurückgewandert, die beiden Mädels vorn hatten hervorragende Arbeit geleistet, als eine Böe mein Heck wegdrückte und der Strom das Seine hinzutat. Ich konnte die unverhoffte Schiffsbewegung nicht ausgleichen, der Bug drohte gegen die Kade zu krachen.
Ich kann auch laut und brüllte nach vorn:
„Leine los, wir müssen zurück.“
Die Worte waren noch nicht komplett ausgesprochen, da hatte Frau Cornelia die Leine frei, die hilfsbereite Dame hielt unseren Bug ab von der Kaimauer. Ich konnte zurückstoßen, kam frei, es hatte noch mal gutgegangen, nur fest waren wir eben nicht. Kann mal passieren, ist aber blöd.
Ich begann das Schiff neu auszurichten, peilte die Distanz zum Ufer und sah dabei im Augenwinkel eine weitere, eine neue Person an der Kade stehen, die Hände in die Hüften gepresst.
Au fein, dachte ich, dem kannst du gleich die Achterleine rüberwerfen. Macht die Sache leichter und begann vorsichtig zur Kaiung zu laufen.
„Du musst jetzt Ruder legen“, hörte ich und dann, „nach Steuerbord, jetzt!“ Die mir zugerufenen Befehle kamen deutlich aus Richtung des Mannes mit den auf die Hüften gelegten Händen.
Und jetzt dies und dann das. Es hörte nicht auf. Eine Schwall hilfreicher Hinweise quoll in meine Richtung. An sich bin ich von wortkarger Natur, Frau Cornelia weiß das zu beklagen, hier aber fühlte ich mich zu einer Erwiderung genötigt:
„Danke, ich komme zurecht, wenn du gleich die Achterleine annehmen könntest, wäre ich dir dankbar.“
Mit meiner Reaktion war der Mann sichtlich nicht einverstanden, machte aber weiterhin heftig gestikulierend klar, wie ein anständiges Anlegemanöver gelingen könnte, ich bräuchte mich ausschließlich nur an seine Anweisungen zu halten.
Den Gefallen tat ich ihm nicht, ich reagierte in keiner Weise auf seine Ratschläge. Ich weiß, das ist unhöflich, zu meiner Entschuldigung sei angeführt, dass das Manöver wegen der Umstände nicht ganz einfach war und genau deshalb meine volle Konzentration erforderte.
Meine Ignoranz sorgte nach nicht zu langer Zeit dafür, dass der gute Mann sich Frau Cornelia zuwandte, er musste doch dieses hilflos treibende Boot ans Ufer bekommen:
„Geh nach hinten“, rief er ihr zu, „du musst erst die Heckleine festmachen. So wie dein Mann das will, geht das nicht. Mach schon, sonst fährt er gleich Euer Schiff kaputt.“
Frau Cornelia, stets höflich und meistens vornehm zurückhaltend, äußerte sich wie folgt:
„Mit dem Mann dahinten am Ruder bin ich seit vierzig Jahren auf Booten unterwegs. Mit seinen Anweisungen bin ich bislang recht ordentlich gefahren. Auf dem Wasser richte ich mich nach dem, was mein Mann sagt!“
Diese wenigen Worte führten unmittelbar dazu, dass wir niemanden mehr zum Annehmen der Achterleine zur Verfügung hatten. Der bis dahin so bemühte Helfer drehte sich um und verschwand wort- und grußlos.
Mir ging das Herz auf. Ich war Frau Cornelia für ihre so wohl gesetzten Worte sehr dankbar und bin es noch immer. Hoffentlich muss ich sie nie enttäuschen. Ein winziges Detail an ihrer Aussage allerdings, ich muss es zugeben, piekste innen in mir ein wenig, es war der leider einschränkende Zusatz „auf dem Wasser“.
Eine kleine Weile benötigten wir noch, dann hatten wir mit Hilfe der freundlichen Dame, sie hatte geduldig gewartet, das Boot sicher und anständig am Ufer. Wir konnten gemütlich Kaffee trinken und einige Küchlein verspeisen.
Nach der verdienten Pause half ich dabei, ein eben angekommenes Boot anzunehmen und ging dann rüber zu dem Mann, der sich so selbstlos bemüht hatte, uns ans Ufer zu bringen. Er lag mit seinem Boot direkt hinter uns, ich wollte die Situation vorhin gern nachbesprechen mit ihm.
Er saß an seinem Steuerstand, verhielt sich anfangs eher abweisend, wollte sich nicht wirklich mit mir unterhalten. Ich nahm ihm das nicht übel, hatte mich ja nicht unbedingt nett und schon gar nicht lernwillig gezeigt. Nachdem ich sein wirklich gutes Deutsch gelobt hatte, er war Niederländer und sprach unsere Sprache wirklich hervorragend, kam das Gespräch in Fahrt.
Ich erklärte ihm meine Sicht der Dinge, ging auf ein paar Eigenheiten unseres Schiffes ein, gab natürlich zu, dass mein Rückwärtslaufmanöver sicherlich von der Landseite aus betrachtet unelegant ausgesehen haben möge und auf einen Schiffsführer mit mangelnder Erfahrung hätte schließen lassen. Nichts desto trotz würde ich mir eine Einmischung in die Schiffsführung von der Landseite aus verbitten, er möge mir das nicht übel nehmen, ich würde mein Boot schon seit einigen Jahren kennen und glaubte hinreichend damit umgehen zu können.
Er warf ein, sein Leben lang Rheinschiffer gewesen zu sein, daher auch das gute Deutsch, neigte im Verlauf des Gesprächs aber doch dazu, zuzugestehen, dass ich mein Schiff besser kennen würde als er, ja, und vielleicht seien seine Ideen bezüglich des Anlegens doch nicht die Besten gewesen.
Letztlich war er, der Uferkapitän, ein netter Kerl, einer mit unglaublich viel Erfahrung und reichem Erfahrungsschatz. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über dies und das, verpassten sogar die erste Brückenöffnung nach der Mittagspause. Das aber war nicht schlimm, wir hatten uns kennengelernt, mochten uns jetzt und schieden als Freunde.
Das, so finde ich, hat doch was. Häufig hilft es, wenn man sich unterhält. Für mich ist das nicht leicht, aber ich versuche zu lernen. Trotz meines Alters.
Frau Cornelia und ich, der Steuermann, denken jetzt häufiger mal über ein Bugstrahlruder nach, es hätte unser Anlegen in Birdaard erleichtert.
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